Schreibproben

Kurzgeschichten

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Eine Kurze Geschichte
Wir alle sind das Ergebnis einer Katastrophe, und dass wir leben, verdanken wir allein dem Umstand, dass sie schon so lange her ist. Ihr folgte ein stetiges Abkühlen und Auseinanderdriften. Es währt jetzt sechzehn Milliarden Jahre, vielleicht mehr, vielleicht weniger. Es kommt hier auf Genauigkeit nicht an.

Gasnebel vereinigten sich zu einem Ball, Eisen und Nickel wanderten abwärts. Lange waren Mond und Erde eng umschlungen, dahingeschmolzen in zweitausend Grad glühender Jugend. Erst als ein fremder Himmelskörper zwischen sie sprengte, das Kinn gereckt, aber beschämt blinzelnd, ging der Mond auf Distanz. Noch nicht allzu weit zunächst, bald in immer weiteren Kreisen. Erleichtert gewann die Erde an Fahrt.

Sie hüllte sich in eine harte Schale. Meere kamen und gingen. Landmassen wanderten. Eiszeiten wechselten mit Wüsten. Vulkane glühten und Algen sprossen. Fische krochen an Land. Quallen, Seefedern und Ringelwürmer pflanzten sich fort oder starben aus. Präkambrium und Kambrium waren längst vergangen, die aufblühende Natur suchte ihr Glück im Riesenwuchs. Das Leben konnte ihr nicht groß genug sein. Die längsten Hälse reckten sich nach den höchsten Wipfeln, die spitzesten Hörner rammten gegen die härtesten Platten. Vor der Kulisse feuriger Berge bewunderten Schildkröten die echsische Erfindung des Gleitflugs. Aber unter den bebenden Füßen der Riesenechsen lauerten bereits die ersten Säuger. Warten, warten, das war das Geheimnis allen Erfolgs. Und ihre Tage kamen. Die Riesen vertrugen das Klima nicht oder die Schnelllebigkeit der Erdneuzeit. Oder ein Meteor oder Vulkane löschten sie aus. Da krochen die Säuger hervor, wuchsen selbst zu stattlicher Größe, aber ohne zu übertreiben, bekamen Hörner oder Geweihe und verbreiteten sich in den Ebenen und Steppen. Auf geheimnisvolle Weise, von niemandem bemerkt, verschwand der Neandertaler.

Dann kam der Mensch. Ihm war kalt. Er war fußwund. Er ärgerte sich. Er wollte die Welt verändern. Aber er war pragmatisch. Er machte Feuer, erfand das Rad und baute Waffen. Zuweilen, wenn niemand hinsah, lachte er auch, bemalte Höhlenwände oder schenkte seinen Weibchen Schmuck. Er probierte viel aus, und das brachte ihn unbeschadet durch die Eiszeit. Er wurde die erfolgreichste Art neben der Eintagsfliege.
[...]
Eintagsfliegen
Über dem träg dahinfließenden Bach, weit entfernt von seiner Mündung, dort wo auf dem Wasser noch die letzten Sonnenstrahlen glühten, blieb ein kleines Naturschauspiel wieder einmal gänzlich unbeachtet.

Erst waren es drei, dann ein Dutzend, dann eine ganze Wolke aus Eintagsfliegen. Eine zweite Wolke vereinte sich mit der ersten, und in noch kürzerem Abstand kam eine dritte hinzu. Männchen waren es allesamt, die dort willkürlich oder scheinbar willkürlich durcheinanderflogen, einander hypnotisierend in unbegreiflichem Spiel, gemeinschaftlich, vielleicht sogar gutmütig, und doch, ohne sich jemals mehr als drei Flügelspannen einander anzunähern. Ihr Flug folgte dem Rhythmus des Sonnenklimperns auf dem Wasser, oder vielleicht schien es nur so.. Für das menschliche Auge war das alles nur ein chaotisches Wabern aus winzigen Punkten. Aber für die sich vorsichtig nähernden Weibchen, die nahebei auf Steinalgen weideten, erschien die Wolke wie ein Traumbild aus glitzerndem Regenbogen. Ein surrendes Konzert funkelnder Klänge. Chitin-Tanz und oszillierendes Wogen, die unwiderstehliche Choreografie der Liebe.

Von einer fantastischen Regung erfasst konnten sie nicht anders als ihrerseits die hochgestellten Flügel auszuklappen und mitten in den Schwarm hineinzufliegen.
Sofort war jetzt der Zauberbann der Männchen gebrochen. Eins nach dem anderen, in einem nie erlernten Sturz- und Gleitmanöver, fielen sieüber die Weibchen her.

Die Männchen starben kurz nach der Begattung, die Weibchen ein paar Minuten später nach der Eiablage. Wer leer ausgegangen war, flog noch eine Weile ziellos den Fluss hinauf, um dann ebenfalls, wie ein verirrtes, verlorenes Fünkchen, auf dem Wasser auszuglühen.
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Geschichts-Podcast "Alternative Fakten"

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Einleitung
Im Winter 1803 präsentierte die damals dreißigjährige Madame Tussaud dem Londoner Publikum zum ersten Mal ihr heute weltbekanntes Wachsfigurenkabinett. Weil in Frankreich die Geschäfte nicht mehr liefen, war Tussaud aus Paris nach London gekommen (und vielleicht auch, um ihrem langweiligen Ehemann zu entfliehen). Als Zeitzeugin hatte sie hautnah die turbulenten Jahre der französischen Revolution erlebt. Das erregte Interesse. Die englischen Damen und Herren kamen mit der Kutsche. Die reicheren ließen sich in Steh-Sänften bis zum Eingang tragen. Madame Tussaud wusste zu erzählen. Sie berichtete vom König und der Königin in Versailles, wo sie jahrelang ein und ausgegangen war, sie berichtetevon Philosophen wie Rousseau und Benjamin Franklin, die im Salon ihres Onkels verkehrt hatten. Sie berichtete von Napoleon und seiner Frau Josephine, deren Gesichtsabdrücke sie höchstpersönlich abgenommen hatte. Und sie berichtete von den grausamen und dämonischen Führern der Revolution, deren Wachsköpfe sie zur Schau stellte. 

Ihre Erzählungen waren farbenfroh und dem Zeitgeschmack entsprechend schauderhaft. Sie hatten dann auch nur einen Makel, dessen Erwähnung heutzutage vielleicht etwas kleinlich erscheint: Madame Tussaud war keinem dieser berühmten Leute je begegnet. 

[MUSIK] 

Alternative Fakten 

[MUSIK FADE OUT] 

Der Begriff „Alternative Fakten“ geht auf das Jahr 2017 zurück. Die Gesellschaft für deutsche Sprache wählte den Begriff damals zum Unwort des Jahres. Was war passiert?  
Donald Trump, damals US-Präsident, hatte die Behauptung aufgestellt, zu seiner Amtseinführung sei ein viel größeres Publikum erschienen als zu der seines Vorgängers Obama. Pressesprecher Sean Spicer hatte daraufhin die undankbare Aufgabe übernommen, Trumps Aussage mit Bildern zu unterfüttern. Woraufhin Beraterin Kellyanne Conway die noch undankbarere Aufgabe hatte, die geschönten Bilder zu rechtfertigen. Auf die Frage der Journalisten, warum der Pressesprecher widerlegbar falsche Behauptungen aufstellte, sagte Conway, Spicer habe nicht gelogen, er habe lediglich „alternative Fakten“ geliefert. 
Dieses Konzept erschien den Journalisten damals noch etwas ungewöhnlich und sorgte für Erheiterung und Proteste. Aber revolutionär neu war es nicht. Die Offenheit und Unverschämtheit, mit der wir belogen wurden, schien damals vielleicht eine neue Qualität bekommen zu haben. Aber neu war natürlich auch das nicht. Im Angesicht von Internet-Anonymität, AI-Influencern und Trollfabriken entsteht leicht der Eindruck, dass wir in einer außergewöhnlich unehrlichen Zeit leben. Schauen wir aber in der Geschichte zurück, in andere Zeiten und andere Epochen, könnten wir genauso gut zu dem Schluss kommen, dass keine Zeit je so ehrlich gewesen ist wie unsere. Wir sind aufgeklärter geworden, skeptischer und kritischer. Trotz all der neuen Möglichkeiten zu faken und zu fälschen, ist es heute viel schwerer, mit einer Lüge davonzukommen als noch vor hundert Jahren.

In dieser Podcast-Reihe wollen wir darum genau das machen: Zurückschauen. Wir unernehmen Streifzüge durch die Geschichte und schauen uns an: Wo wurde gelogen? Wann wurde gelogen? Warum wurde gelogen? Wie erfolgreich wurde gelogen? Welche dieser Lügen glauben wir vielleicht heute noch?

Madame Tussaud hatte ihre Gründe, den Londonern Lügengeschichten zu erzählen. Sie wollte ihre Ausstellung bewerben. Und im monarchischen England musste sie – die Französin - sich als königsnah präsentieren. Also wurden König und Königin gelobhudelt und die Revolutionäre wurden zu grausamen Tyrannen. So einfach war das.

Geschichte wird von den Siegern geschrieben. Es gibt also einiges zu revidieren. Und damit fangen wir jetzt an.

Drehbuch

Für eine Filmkomödie
POLIZEIREVIER AMSTERDAM; GROSSRAUMBÜRO – TAG - INNEN
Im Büro herrscht rege Betriebsamkeit. Kommissar WILLEM FABER, Mitte 40, dreht sich lustlos auf seinem Stuhl. Klein, hässlich, beinahe ein Gnom, mit viel zu großen Ohren und Augen, passt er so gar nicht in seine Umgebung.

Faber ist ein Mann, der es nie ganz geschafft hat. Aber auch einer, der es sich nicht verzeihen würde, wenn sein großer Tag nicht irgendwann noch käme.

Düster starrt er zu seiner Kollegin ROOS hinüber (ca. 30, hochgewachsen, attraktiv), die den Ausführungen eines weiteren Kollegen, PIETER (ca. 30, ebenfalls hochgewachsen, sportlich, sympathisch) lauscht, der mit großen Gesten seine Angelerfolge verherrlicht. Pieter bemerkt Fabers feindlichen Blick.

PIETER
Was mit dir, Faber? Angelst du?

FABER
Nicht mehr.

PIETER
Lass mich raten. Ne Forelle hat dich ins Wasser gezogen.

Während das Büro teils lacht, teils gegen den schlechten Witz protestiert, steht Faber auf und nähert sich seinem Rivalen langsam. Im Büro wird es still. Der kleine Mann strahlt plötzlich eine erstaunliche Gefährlichkeit aus.

FABER
Damals am Mittelmeer. Dieser Fisch - dieser Fisch - also - du weißt, was ein Wels ist, Pieter?

PIETER
Ein Fisch.

FABER
Gut. Aber weißt du, was ein Aristoteleswels ist? - Also, dieser Fisch war ein Biest. Anderthalb Meter. Mindestens.

PIETER
Fast so lang wie du.

Verhaltenes Gelächter.

FABER: Und ich Laie hatte natürlich nur eine einfache Angel. Keine Reusen, keine Harpune. Gar nichts. Ich wollte ja nur was Kleines für die Bratpfanne. Und dann sehe ich dieses Biest. Dieses ausgezeichnete Monstrum. Schleimiger, bärtiger Kopf. Der Körper voll schwarzer Flecken, wie Pestbeulen. Und ehe ich weiß, was geschieht, schnappt dieses Biest den Köder, und ich habe ihn am Haken. Regelrecht am Haken. Und dieses Ding hängt also an meiner Angel und starrt - ich schwöre, es starrt mich an, mit diesen tiefschwarzen Augen!

PIETER
Und ein Jahr später habt ihr geheiratet.

Gelächter.

FABER
Jajajaja ... Und ich weiß, wenn ich jetzt ziehe, wenn ich jetzt ziehe, dann habe ich verloren. Dann ist er weg. Für immer. Also warte ich ab, bleibe ganz ruhig. Und wir starren uns an. Einfach so. Minutenlang. Eine Ewigkeit. Aristoteles und ich ...

ANDERER POLIZIST
Mittelmeer, ja?

FABER
Korsika. Zweitausendundzwei.

ANDERER POLIZIST
Wels is aber 'n Süßwasserfisch, du Spinner!

Während das ganze Büro lacht, öffnet sich eine Tür und Oberkommissar SANDERS, Mitte 50, steckt den Kopf hindurch.

SANDERS
 Faber!

FABER
Wär aber ne gute Geschichte geworden.

SANDERS
Faber! Kommen Sie mal in mein Büro, bitte.

Wir folgen Faber ins …
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POLIZEI-CHEFBÜRO - TAG - INNEN
Faber sitzt, sehr klein, mit angezogenen Schultern im viel zu großen Sessel seinem Chef gegenüber. Sanders redet, aber Faber ist in Gedanken woanders.

SANDERS
... Gefällt es Ihnen eigentlich bei uns, Faber?

FABER
Äh. … Hm?

SANDERS
Sehen Sie, im Augenblick ... Lassen Sie mich anders anfangen. Die finanzielle Situation, die wir gerade - die Polizei überall, das sind ja nicht nur wir ... Und damit sage ich nicht, dass diese Stelle für Kunstdiebstahl unbedeutend ist. Sie ist sogar sehr ... Hm. Aber wir müssen hier auch realistisch bleiben.

FABER
... M-hm?

Sanders hat eine Akte aufgeschlagen.

SANDERS
Und wenn ich mir das hier anschaue. Und das ist keine Kritik an Ihrer Arbeit. Oder an Ihnen persönlich. Aber: 1995 - drei gestohlene Impressionisten. Unaufgeklärt. '97 - der Stedelijk-Fall: Unaufgeklärt.
'99 - die beiden Vermeers.

FABER
Die Vermeers sind wieder aufgetaucht.

SANDERS
Nachdem Scotland Yard sich eingeschaltet hat.

FABER
Die Hinweise kamen von mir. Uns.

SANDERS
2001 - diese "Viktor van Doom"-Geschichte. Unaufgeklärt. 2004 - zwei Mirots, beide zerstört, Roberto Matta, zerstört, 2005, irgendein Ritschl?, verschollen, 2006, und das geht so weiter.

FABER
(während Sanders Aufzählung)
Wenn ich ... darf ich ... Mit solchen Kunstwerken ... manchmal dauert es Jahre, bis --

SANDERS
Faber.

FABER
Und Sie müssen auch bedenken...

SANDERS
Faber!

Faber schweigt.

SANDERS
Ich will nur sagen, Faber. Ich habe Sie ja nicht ... mein Vorgänger hat Sie eingestellt, und: Sie sind - natürlich - einer von uns. Und wir wollen, dass das so bleibt. -- Nur, wenn diese Sache in Rotterdam, wenn die auch wieder liegen bleibt - das wäre - naja - nicht so gut.

POLIZEIREVIER AMSTERDAM, GROßRAUMBÜRO - tag - INNEN
Faber, kalkbleich und wütend, bahnt sich seinen Weg durch das volle, plötzlich viel zu enge Büro, schnappt sich Mantel und Tasche und geht zum Ausgang. Sein Mantel verheddert sich an einem der Tische. Papiere fallen zu Boden.

PIETER
Was fängst du heute, Faber? Platon-Plankton?

Faber verlässt den Raum.

ROOS
Der Spinner!

Fantasy

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Die Dornenwaage
[...]
Als der Karren endlich am Fuß des Blutgerüstes anhielt, wich der Jubel auf dem Platz einem angespannten Schweigen. Der Blick des Pan strich über die Menge. Über die Gesichter der Dremeter, seines Volkes, für das er hundert Siege errungen hatte, und über die verhärmten Gesichter der Kaeli, seiner niedergerungenen Feinde. Beschämt senkten viele das Haupt. Andere hielten es erhoben, aber ihre Gedanken und ihr Puls fingen zu rasen an. Die weit vorne standen, hatten den Eindruck, der Eroberer wolle etwas sagen. Gespannt spitzten sie die Ohren. Einige wandten sich zu den hinteren Reihen um und riefen zur Ruhe auf.

Doch der Pan sprach nicht. Stattdessen schluckte er zweimal mühevoll. Sein Blick ging zur Dornenwaage. Kurz nur, dann richtete sich der große Herrscher auf. Von den Gehilfen des Henkers gestützt, die Hände hinter dem Rücken gebunden, stieg er vom Karren. Auf diese Weise entschwand er für eine Weile den Blicken der Zuschauer unten auf dem Platz. Da war der Bann gebrochen, und der Jubel lebte wieder auf. Beschimpfungen wurden laut. Erdrosselte Katzen flogen in Richtung der Dornenwaage. Schützend hoben die Gardisten ihre Schilde. Sprechchöre forderten die Aufhebung der Brotsteuer oder die Entlassung des Schatzmeisters. Andere Forderungen folgten den ersten und mündeten in eine Hymne unverständlicher Parolen.


Als aber der Pan auf dem Schafott erschien, wurde es wieder still. Wie schlafwandelnd schritt der Eroberer die Holztreppe zur Dornenwaage empor. Die Augen geschlossen, als zähle er leise jede der zwanzig Stufen. Unsicher erschienen jetzt die Schritte des Mannes, der einst die Treppe der Macht so formvollendet erklommen hatte. Die Henkersgehilfen nahmen ihn in Empfang. Fast behutsam fassten sie ihn an den Armen, wie um einen alten Mann zu stützen, und geleiteten ihn so zur Waage: dem großen Brett, das jetzt in die Senkrechte gekippt war, um den Gefangenen daran festzubinden. Mit geübten Griffen schlugen sie Riegel um und zurrten Schnallen fest, bis der große Mann bäuchlings fest auf die Wippe gebunden war. Der Pan leistete keinen Widerstand. Selbst als einer der Gehilfen übermütig eine tote, weiße Katze aufhob und sie ihm auf den Kopf setzte, blieb seine Miene reglos. Und da auch das Volk dieser Demütigung kaum applaudierte, deutete der Henker seinem Gehilfen, die groteske Krone wieder zu entfernen.

Was folgte, war eine rasche, tausendfach geübte Abfolge. Mit einem lauten Schlag wurden Brett und Mensch in die Waagerechte gekippt. Mit einem weiteren Schlag schnappte der Holzkragen zu. Schrauben wurden gedreht und fixierten den Kopf, sodass er mit dem Gesicht nach unten, exakt unterhalb des Dorns verharrte.
Zu diesem Zeitpunkt ging eine letzte Bewegung durch den Körper des Pan. Ein letzter Widerstand, ein letztes Aufbäumen. Seine Füße und Arme zuckten, verkrampften sich in wilder Wut, und seinem Mund entwich ein schauderhafter, wortloser Schrei.
[...]

Zeitungskolumne

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Die kulturelle Bedeutung von Dior-Handtaschen
Als ich eines Morgens wieder einmal mit Dreispitz und Degen über die Bertoldstraße flanierte und mir meine Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst machte oder ergebnislos darüber nachsann, ob Max Piccolomini wohl ein Held oder ein idealistischer Dummkopf sei, fiel mir zum ersten Mal ein überdimensionales Spruchband ins Auge, das neuerdings an der Retro-Fassade unseres Freiburger Theaters prangte: „Europa wird kulturell sein oder es wird nicht sein!“

Durch diese düstere Warnung aufgeschreckt, reiste ich sofort nach Paris, um sie auf ihre Berechtigung zu überprüfen. Hatte ich etwas versäumt? Die Zeichen der Zeit nicht erkannt? Stand es wirklich schon so schlimm? Auf direktem Weg hastete ich ins Louvre, rempelte mich durch eine Traube fotografierender Japaner und stellte erleichtert fest, dass die Mona Lisa noch an ihrem Platz hing. Sie sah aus wie immer, etwas gelbsüchtig, mit rissiger Haut. Es war also noch alles in Ordnung.

Am Nachmittag lernte ich im Quartier Latin eine zwanzigjährige Italienerin kennen. Giulia fing gerade ein Wirtschaftsstudium an und interessierte sich primär für Handtaschen von Dior. Ich wusste bis dahin von den Italienern nicht viel mehr als dass sie uns von Zeit zu Zeit im Fußball schlagen, aber wenn es mit der europäischen Kultur tatsächlich so schlecht stehen sollte, dachte ich, dann sind daran bestimmt die 20-jährigen italienischen Mädchen Schuld.
Bald stellte ich jedoch mit Unbehagen fest, dass Giulia bereits während der Schule nicht nur die gesamte italienische, sondern auch die gesamte deutsche und zuletzt auch noch die gesamte russische, französische und englische Literatur gelesen hatte. Das sei in Italien nicht ungewöhnlich. Für die Abiturarbeit hatte sie erst Proust wählen wollen, sich dann aber aus Zeitgründen doch für Miltons Paradise Lost entschieden. Jetzt las sie gerade den gesamten Dostojewski, das sei aber in Italien nicht ungewöhnlich.

Ich fühlte mich schwer in meiner Büchermesse-Nationen-Ehre verletzt. Was für ein verrottetes Kulturland sind wir doch geworden, rief ich. Das allerverrottetste, aufgeblasenste Kulturland von allen! Giulia tröstete mich: „At least you Germans are better in mathemetics and physics and stuff. Oh, look, I sooo much want to have this Dior-bag…”

Akademisch

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Leo Trockij und die "Orientalische Frage", Einleitung
“Als die Große Französische Revolution von der europäischen Reaktion abgelöst wurde, welche die heilige Allianz hervorbrachte; als die Konterrevolution all ihre Kräfte anstrengte, um dem Erbe von 1848 ein Ende zu bereiten – jedesmal kam die orientalische Frage ins Spiel. Darauf wies seinerzeit schon Marx hin. Und jetzt, nach der Niederlage der Revolution in Rußland, als wolle man den Skeptikern das Recht geben, zu bestätigen, die Geschichte drehe sich in einem circulus virtuosis, wurde die orientalische Frage erneut auf die Tagesordnung gesetzt.“ (Leo Trockij, 1910)

Im Juni 1907 war der erste Versuch einer Revolution in Russland mit der Wiederherstellung der Selbstherrschaft endgültig gescheitert und die Reaktion zerschlug für lange Zeit die Hoffnungen der Sozialisten auf schnelle gesellschaftliche Veränderungen. Der russische Revolutionär Leo Trockij, einer der Hauptakteure der Revolution von 1905, wurde aus Russland verbannt und flüchtete sich ins Exil nach Wien – in der Tasche das fertige Konzept seiner „permanenten Revolution“.
Von Wien aus beobachtete er auch die derzeitigen Entwicklungen auf dem Balkan, die wenige Jahre später in den ersten Weltkrieg münden sollten, und hielt Kontakt zu der balkanischen Sozialdemokratie. „Die Methode des Proletariats“, schrieb er 1910 in Skizzen eines politischen Bulgariens, „sind nicht diplomatische Schachzüge, sondern ist der Klassenkampf, sind nicht Balkankriege, sondern Balkanrevolutionen“. Was aber ist unter diesen Klassenkämpfen zu verstehen? Wie stellte Trockij sich eine Revolution auf dem Balkan mit seiner überwiegend bäuerlichen Bevölkerung vor, auf welchen theoretischen Grundlagen basierte sie? – Das zu beantworten ist das Anliegen dieser Arbeit.
Ausgangspunkt ist der Vergleich mit den Theorien von Marx und Engels. Die vollständige Marxsche Gesellschaftstheorie würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, deshalb soll der Schwerpunkt hier auf die marx-engelschen Revolutionskonzepte gelegt werden. Ebenfalls nicht behandelt werden die Theorien anderer Marxisten jener Zeit, wie diejenigen von Kautsky, Plechanow oder Lenin. Zwar hatten diese auf Trockijs Denken ebenfalls großen Einfluss, doch uns interessiert hier nicht die Entstehungsgeschichte von Trockijs Theorien, sondern einzig deren Inhalt.
Mit den Marxschen Theorien als Grundlage werfen wir im zweiten Schritt einen Blick auf Trockijs Theorie der „permanenten Revolution“, die er in den Jahren 1904 bis 1906 in seiner theoretischen Schrift Ergebnisse und Perspektiven für Russland entworfen hat.
Abschließend untersuchen wir, inwieweit sich diese Theorie auch in Trockijs Betrachtungen über die Aufgaben des Proletariats auf dem Balkan niederschlägt, wie er sie in verschiedenen Zeitungsartikeln von 1908 bis 1912 dargelegt hat.